Schauplätze

Freitag, 24. Januar 2003

Wenn der Chef das Essen auswählt

Heute Morgen war die Schwerkraft rund ums Bett etwas größer als sonst. Ein Blick in den Spiegel entlarvte das Übel in Form von kleinen, geplatzten Äderchen unterhalb der Augen: Roche hatte gestern Abend zu einem opulenten Mahl im tiefsten Mittelhessen eingeladen. Bepanthen™-Pröbchen wurden nicht verteilt, dafür hat mir einer der beiden Außendienstmitarbeiter vermutlich ein paar Milliliter Unat™ in den Wein gegeben, so häufig war ich auf der Toilette. Wenn man unter Medizinern ist, kann man sich ja nie sicher sein, was mit einem passiert.

Chemiker müssen in der Nähe sein, dachten wir beim Anblick des ersten Ganges, einer Tomatenmousse mit Spinatsauce. Der Küchenchef konnte mir aber glaubhaft versichern, dass keine Lebensmittelfarben im Spiel waren und die Zutaten naturbelassen verarbeitet wurden.

Dass wir Tomatenmousse mit Spinatsauce gegessen hatten, erfuhren wir erst später, denn eine Karte mit der Speisefolge lag nicht aus und auch die herzliche Bedienung war sich nicht so ganz sicher, was da auf dem Teller lag. So rätselten wir lange an dem Geschmack der Sauce herum. Einige waren der Meinung, es handele sich Kräuter, andere tippten richtig. Ein ganz Verwegener kam auf den Gedanken, dass uns da Kerbel aufgetischt wurde. Das war aber erst im zweiten Gang der Fall, der aus einer schmackhaften, wenn auch etwas glutamatlastigen Kerbelrahmsuppe bestand, die jener fälschlicher als Suppe aus grünem Spargel identifizierte.

Das Rätselraten setzte sich im dritten Gang fort: Den Salat erkannten wir schnell als solchen, bei dem kleinen, rosa-braunen Fettklumpen schieden sich aber die Geister. Leberwurst, meinte der eine, und strich sich die Masse genussvoll auf das vorzügliche Vollkornbrot, Gänseleberpastete meinte ein anderer. In Wahrheit war es ein Entenleberparfait und war — nun ja — essbar.

»Ich mags eigentlich lieber, wenn das Gemüse gar ist.«, zweifelte eine Tischgenossin an den Kaiserschoten, die im vierten Gang zum Zanderfilet mit Sauce Noilly Prat serviert wurden. Auch wenn der Fisch wirklich köstlich war, gingen viele neidische Blicke zu denjenigen Gästen hinüber, die sich für das Lammfilet entschieden hatten. Fleisch macht halt satter als Fisch, und das haben sich bis dahin die meisten noch mehr gewünscht als guten Geschmack.

Zum Abschluss kam dann Zweierleimousse mit weißer und dunkler Schokolade auf den Tisch. Erinnerungen an Großpackungen aus der Metro wurden wach, auch und vor allem beim Anblick der blutroten Sauce, die etwas ungelenk um die beiden Klumpen herumgetröpfelt war.

Hinterher hätte ich gerne noch ein Würstchen mit Pommes gegessen. Würstchen mit Pommes waren aber leider aus. Da waren die anderen wohl schneller…

Echte Glanzlichter waren hingegen die Weine: Der Weißwein (ein 2001er Castaño Dominio Espinal) war fruchtig-prickelnd und passte gut zum Fisch. Leider auch zu den anderen Gängen. Den spanischen Rotwein (1999er Barceló Vino de la Tierra de Castilla y León) habe ich deshalb nicht mehr probiert, mir aber sagen lassen, er wäre noch besser als der weiße gewesen. So darf es auch nicht verwundern, dass ich dem Alkohol gut zugesprochen habe und dank der vielen wunderbaren Lästereien mit den Leidensgenossen, vor allem über die recht träge Bedienung in Person von zwei echten Blondinen, den Abend in guter Erinnerung behalten werde. Roche sei Dank! Ihr konntet ja nichts dafür, dass das Restaurant an dem Tag eigentlich geschlossen hatte.

Bevor ich's vergesse: Für die Auswahl von Essen und Getränken war der Chefarzt verantwortlich, dem man trotz guter Leberwerte nachsagt, er trinke jeden Abend eine Flasche Roten. Ob er nun bei Roche-Produkten bleibt oder Alternativen bei anderen Herstellern suchen wird, ist nach diesem gesellschaftlich hervorragenden, aber kulinarisch misslungenen Abend offen.

Für die Optimierung der sozialen Komponente hatten wir im Übrigen vorgesorgt: Eine Viertelstunde vor Veranstaltungsbeginn trafen sich die Assistenzärzte vor dem Eingang zum Lokal, um nicht mit dem Chef an einem Tisch sitzen zu müssen. Sollen ihn doch die Oberärzte ertragen, die werden besser bezahlt.

Damit der Ansturm auf die Lokalität nach diesem Bericht nicht zu groß wird, verzichte ich auf einen Link auf die Homepage. Auch auf Anfrage werde ich den Namen nicht herausrücken, man soll mir ja keine üble Nachrede unterstellen können.


 
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Resident of Antville  seit 7996 Tagen
zuletzt aktualisiert:
22. Juni 2003, 17:43

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