Schauplätze

Dienstag, 7. Januar 2003

Bizarres und Skurriles

Zwischen hintendran und vorneweg

Mich haut so leicht nichts um. Nicht, dass ich mich nicht nachhaltig und substanziell aufregen könnte, auch mangelt es nicht an Gelegenheiten. Aber was ich jetzt an der Kasse eines Penny-Marktes in Hamburg erlebt habe, sprengt jedwede Grenze.

Also, wie gesagt, ich stehe in der Kassenschlange. Und beobachte die Schlange an der Kasse. Nicht die Kassiererin. Die Menschenmenge.

Und denke mir so nebenbei, dass es doch jeden Moment soweit sein müsse: Irgendetwas wird passieren, so dass ich dankbaren Herzens wieder feststellen darf, dass ich mal wieder an der falschen Kasse angestanden habe. Sei es, dass gerade an dieser Kasse jeder Kunde mit EC-Karte zahlt, jeder zweite dabei seine PIN erst einmal falsch eingibt, oder mindestens drei Omis in der Schlange bar bezahlen, sich dabei aber noch nicht an das Euro-Münzgeld gewöhnt haben und eine Viertelstunde in ihrem Portemonnaie suchen, bis sie feststellen, dass sie gar kein 3-Cent-Stück haben: »Ach, ich dusselige Olle, das waren ja auch 3-Pfennig-Stücke…«. In der Regel aber läuft das Ganze folgendermaßen ab:

Knapp vor mir läuft ein Artikel über das Band, der einen nicht-lesbaren Barcode hat, so dass die Verkäuferin erst einmal ihre Nachbarin an Kasse 5 fragen wird, ob die den Preis kenne. Diese verneint. Unsere Teen-Queen verschwindet in den Tiefen des Marktes, kann den Junior-Marktleiter nicht finden, geht deswegen erst einmal auf Toilette, raucht sich eine und legt zu guter Letzt mit triumphierendem Gesichtsausdruck ein Produkt mit intaktem Barcode auf das Band.

Die Menge hinter mir atmet erleichtert auf.

Die betagte Dame vor mir öffnet ihre Geldbörse, nachdem sie alles eingepackt hat — und der Joghurt muss ja obenauf — »…upps, das kommt jetzt aber überraschend, dass ich bezahlen muss…« — und beginnt mit einer ausgiebigen Suche nach dem korrekten Cent-Betrag. Dabei wendet sie jede Münze einmal, um beide Seiten zu beäugen. Sie legt Münze nach Münze auf das Band, fragt zwischendurch noch zweimal nach — sie hört etwas schlecht — und abschließend stellt sie fest, dass ihr zur vollen Summe genau drei Cent gefehlt hätten.

Die Verkäuferin hat Zeit, vor 20:15 Uhr wird sie das Ladenlokal nicht verlassen. Und sie kennt das: Sie ist ein Kassenschlager. Sie schlägt auf diese Weise Zeit an der Kasse tot.

Unsere betagte Dame hat mittlerweile alle Münzen einzeln(!) wieder an ihren angestammten Platz in der Geldbörse zurück gelegt und… holt einen Hundert-Euro-Schein heraus.

Ein leises Seufzen setzt hinter mir ein und vereinzelte Forderungen nach der Öffnung einer weiteren Kasse erschallen aus Richtung Fleischtheke — 50 Meter hinter mir. Sie werden geflissentlich überhört: Die Kassiererin will, dass man sich an ihr Gesicht erinnert. Sie kandidiert schließlich für »Deutschland sucht den Superstar«. Woran sie mich mit ihrer kaugummikauenden Phlegmatik erinnert? — Ich behalt es für mich.

Also, wie bereits erwähnt, Omi nestelt den 100-Euro-Schein hervor. Natürlich kann unsere unsere nationale Vertretung beim Grand Prix der Volksmusik an der Kasse hierauf nicht wechseln. Es entspannt sich also ein kurzer Dialog zwischen Kasse 1 und Kasse 5.

Kasse 1: »Gunda…?« Kasse 5: »Jaaaa?« Kasse 1: »Kannst Du mir mal 'n Hunni kleinmachen…?« Kasse 5: »Hää?« Kasse 1: »Ob du mir mal einen Hunderter kleinmachen kannst…« Kasse 5: »Nee du. Im Moment geht nicht. Bin selber knapp…« Kasse 1: »Kannst Du dann mal Herrn Reihmann rufen…?« Kasse 5: »Ja. Klar. Mache ich sofort…«

»Sofort« ist ein Idiom. Eine Verbalintegration. Auf Deutsch: Ein Unwort. »Sofort« bedeutet auf gar keinen Fall »jetzt«, im günstigsten Fall »gleich«, meistens aber »wenn ich Zeit habe«.

Herr Reihmann wird also geschlagene zwei Minuten später ausgerufen. Wir fragen uns verzweifelt, ob das der nicht-auffindbare Abteilungsleiter von vorhin ist. In solchen Zeiten wie diesen wünscht man sich einen klappbaren Campingstuhl.

Herr Reihmann kommt. Er weiß, dass sein Auftauchen etwas eines weißen Ritters an sich hat, er wirkt ein bisschen wie die frische Brise, die draußen weht und die doch für uns unerreichbar ist. Vorerst sehen wir in ihm den Retter in dieser verfahrenen Siutation. Jürgen hat Übung in diesem seinen Auftritt: Je länger die Schlange an der Kasse, desto weißer seine Rüstung. Geblendet senken wir den Blick: Sein Kittel strahlt geradezu überirdisch weiß.

Mit geübtem Blick erfasst Jürgen die Situation, zückt mit einer fliegenden — und doch wohldosiert knappen — Handbewegung seine Geldtasche und verfüttert Geldscheine und Münzen in die hungrige Kasse. Unser Megapopstar an der Kasse blickt mittlerweile völlig fasziniert an ihm hoch. 20:15 Uhr?

Der Hunderter wird geknackt, keine große Sache. Omi bedankt sich, nicht ohne sich für das »große Geld« entschuldigt zu haben und wackelt von dannen.

Nur noch drei vor mir. Und dann ich.

Ich habe Vertrauen zu mir, denn ich weiß: Ich werde die Fehler vermeiden, die ich an anderen so »liebe«. Bei mir geht alles immer ganz schnell: Mein Auftritt an der Kasse hat immer so etwas Fluchtartiges. Ich fühle mich da immer wie ein Reh auf der Autobahn. Und ich habe immer ein schlechtes Gewissen, daß es bei mir dann doch zwölf Sekunden gedauert hat. Vor lauter Scham wage ich es nie, den Blick zu heben und die nachfolgenden Kunden anzuschauen: Ich würde den Vorwurf in ihren Augen nicht verkraften.

Also, wie gesagt: Noch drei Kunden vor mir.

Direkt vor mir steht eine junge Dame von schätzungsweise sechzehn oder siebzehn Jahren. Unscheinbar bis in den tiefroten Bereich. Die gleichen Jeans an wie hunderttausend andere, das gleiche billige Parfüm wie all die anderen Vorstadt-Beauties. Doch diese hier hat etwas. Sie ist… irgendwie anders. Ich sollte zügig herausfinden, was es ist:

Plötzlich zückt die ihr Handy. Nein, denke ich, die wird doch jetzt nicht… — Doch, sie wird…

Ist Ihnen eigentlich schon mal aufgefallen, wie schnell die Kids heutzutage SMS tippen können? Nein? Sie tippen schneller, als ich lesen kann. Und ich kann schnell lesen!

Also, Miss Penny Januar zückt ihr Handy und wählt eine Nummer.

Ich zähle mich zu einer Generation, der die Errungschaft der Technik willkommen, aber die Ethik selbiger noch nicht ganz aus den Augen gekommen ist: Ich würde niemals auf die Idee kommen, an einer Kasse telefonieren zu wollen. Ganz besonders dann nicht, wenn ich nur noch zehn Minuten habe, bis ich dran bin. Mir ist es schon peinlich, wenn ich auf der Straße angerufen werde. Schließlich ist ein Anruf das Eindringen in die Privatsphäre eines Menschen und ich neige nicht dazu, meine Privatsphäre in einer U-Bahn oder einer Kassenschlange zu präsentieren.

Also, wie gesagt, sie wartet. Ich höre das Freizeichen. Dann wird abgenommen. Ich gebe den folgenden »Monolog« so gut wie möglich wörtlich wieder:

»Hallo Ingo, ich bin's, die Annika.« (…) »Genau.« (…) »Du, Ingo, ich hab's mir reiflich überlegt… Ich will Schluss machen.« (…) »Nein, nein… Ingo, ich finde, zweiundzwanzig Monate sind genug!« (…) »Nein. — Zweiundzwanzig!« (…) »Nein, Ingo. Das stimmt nicht. Ich habe nichts mit Thomas.« (…) »Nein. Ist auch völlig egal. Geht dich auch nichts an!« (…) »Ingo, es ist mir völlig egal, wie du darüber denkst, wir sind durch…!« (…) »Hör zu, das ist mir völlig egal. Du interessierst mich nicht mehr!« (…) »Wenn du das tust…« (…) »Okay, du willst es nicht anders…«

Sie legt auf. Und lässt Ingo, die arme Sau, völlig verwirrt am Telefon zurück.

Dieses sympathische Gespräch haben ungefähr fünfzig Kunden mitbekommen. Und mir ist es schon peinlich, überhaupt dahinter zu stehen. Obwohl man bei genauerem Hingucken erkennen müsste, dass ich unmöglich diese Stimme haben konnte!

Noch zwei Kunden bis zur Kasse.

In den folgenden zwanzig Sekunden tippt Miss Penny Januar zwei SMS und… wählt eine weitere Nummer…

»Thomas…? — Pass auf, ich habe gerade mit Ingo telefoniert.« (…) »Ja. Ich hab's ihm gesagt…« (…) »Genau. Also, hör zu: Er ahnt was. Aber ich bin nicht drauf eingegangen.« (…) »So ist es. Lass dich nicht drauf ein. Er wird bluffen, aber er weiß von nichts.« (…) »Er weiß nichts von uns. Er vermutet es nur…« (…) »Okay. Wir sehen uns nachher. Du fehlst mir…«

Fünfzig Kunden empfinden Mitleid mit Ingo, der armen Sau. Dem Big-Bluffer. Und ich wünsche Annika, dass sie ihr Portemonnaie vergessen hat…


 
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Resident of Antville  seit 8169 Tagen
zuletzt aktualisiert:
22. Juni 2003, 17:43

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