Schauplätze

Samstag, 21. Dezember 2002

Weihnachten '78

Es hat begonnen zu schneien. Ich wünsche mir, ich könnte noch einmal den Schlitten herausholen und fahren wie vor 25 Jahren, den ganzen Tag über. Den Schnee genießen, das Glitzern der Kristalle in der Sonne und den blauen Himmel über mir. Keine Eltern, die mich quälen konnten.

Ich war frei.

Und abends, wenn es dunkel wurde und die anderen Kinder nach Hause gingen, bin ich weitergefahren. Ganz alleine. Ich wollte diese Gefühl von Freiheit nicht loslassen und ich wollte nicht wieder nach Hause gehen. Wenn es dann doch nicht anders mehr ging, weil mir die Jeans — ich hatte keine Wintersportsachen — steifgefroren waren und mir die Finger vor Kälte fast verbrannten, dann bin ich langsam heimwärts gezogen und an den beleuchteten Fenstern vorbei, wo ich andere Menschen beieinander hocken sah.

Ich werde auch nie den Heiligen Abend 1978 vergessen.

Der Heilige Abend und der erste Weihnachtstag gehörten der Familie. Am zweiten dann waren Verwandtenbesuche dran. Da meine Eltern es sich aber im Laufe der Zeit mit allen Verwandten verscherzt hatten, war der zweite Weihnachtstag ein »freier« Tag. Mit 15, 16 hatte ich eine Freundin, die auch gleichzeitig meine Tanzpartnerin war. Deren Eltern begangen den »Frevel«, mich am 1. Weihnachtstag zum Mittagessen einzuladen. Ich bat meine Eltern, gehen zu dürfen. Meine Mutter war dafür, mein Vater aus Prinzip dagegen. Es gab Streit und Tränen, dann ließ mich mein Vater ziehen. Als ich wiederkam, sprach er — mal wieder — kein Wort mehr mit mir. Das ganze Weihnachten über nicht.

Ein Jahr später.

Zu Weihnachten und Ostern wurde bei uns immer großer Hausputz betrieben. So auch 1977. 24. Dezember. Heilig Abend. 18 Uhr. Draußen hatte es enorm geschneit, es war eines der seltenen »weißen Weihnachten«. Bitterkalt, minus 15°C.

Das Wohnzimmer war verschlossen, weil Bescherungszimmer. Und ich hatte die Aufgabe, die Treppe zu säubern. In wenigen Minuten war »Badewann« angesagt und dann — für mich die reine Qual — Weihnachts-Sachen: Hemd, Krawatte und kratzige Hose. Streit gab es keinen, im Gegenteil: Ich scherzte mit meinem alten Herrn, und die Stimmung war gelöst.

Ich hatte gerade die Treppe fertig gewischt. Urplötzlich sagte mein Vater wörtlich zu mir: »Und jetzt raus!« Ich schaute ihn nur irritiert an und fragte »Wie jetzt…?!« Er wiederholte nur: »Du willst doch wieder zu Deiner Freundin. Also raus!« Ich sagte ihm, dass ich Heiligabend unmöglich dort hin könne. »Das ist mir egal. Raus!« Und: »Letztes Jahr hat es deinetwegen so viel Streit gegeben, das werde ich dieses Jahr verhindern!«

Meine Mutter protestierte und meine Schwester fing an zu weinen. Das verschärfte die Situation noch und er brüllte: »Wenn Du jetzt nicht gehst, werden deine Mutter und deine Schwester ein fürchterlich« – er konnte das »ch« nicht aussprechen, bei ihm kam es als »fürkterlik« raus – »Weihnachten haben.«

Was blieb mir übrig? – Hätte ich mich geweigert, hätte er mich so hinausgeschmissen, ich hätte noch nicht einmal meine Jacke anziehen können, geschweige denn meine Schuhe. Ironie des Schicksals: Ich sollte zu Weihnachten — weil ich bis dato nur eine ganz dünne hatte, Engländer sind ja soooo hart — eine dicke Winterjacke und richtige Winterstiefel bekommen. So hatte ich nur meine Straßenschuhe und meine dünne Jacke. Und draußen minus 15 Grad. Schnee bis zu den Knien.

Also ging ich.

Ich habe geheult wie ein Schlosshund. Und ich habe mir so leid getan. Ich hatte ja tatsächlich nichts getan, ich war einfach so vorbeugend bestraft worden. So lief ich also durch die Strassen meiner Heimatstadt. Kein anderer Mensch war unterwegs und es war wirklich schneidend kalt. Durch die Fenstern konnte ich die Bescherung anderer Familien sehen und ich wollte einfach nur noch sterben. Ich wollte nicht mehr.

Also lief ich zum Wald hoch und setzt mich da auf eine verschneite Bank. Ich machte mir nicht einmal die Mühe, den Schnee wegzuwischen, denn ich wollte diese Nacht eh nicht überleben. Aber diese Nacht werde ich nie vergessen: Unten im Tal die Stadt, ein wolkenloser Himmel und Vollmond. Unberührter Schnee überall.

Ich machte meinen Frieden mit Gott. Oder versuchte es zumindest. Ich hatte keine Energie mehr zum Leben. Überall Probleme. Keine Freunde. In der Schule war ich die Lachnummer schlechthin und meine Noten entsprachen meiner Beliebtheitsskala: ungenügend. Ich war als Mensch ungenügend, irgendwo hatte mich die Qualitätskontrolle übersehen. Mein Vater — so weiß ich es jedenfalls heute — hasste mich.

Irgendwann wurde es so kalt, dass sich mein Körper meldete und mir ganz deutlich zu verstehen gab, dass es ernsthafte Konsequenzen geben würde, wenn ich dort noch weiter hocken bliebe. Ich dachte, erfrieren sei einfach und schmerzlos. Ist es nicht. Im Gegenteil: Es ist höchst unangenehm.

Nachts um 3:10 Uhr wurde ich von meiner Mutter wieder hereingelassen, weil mein Vater inzwischen besoffen eingeschlafen war.

Fröhliche Weihnachten?

[aus dem Tagebuch eines Freundes]


 
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Resident of Antville  seit 8170 Tagen
zuletzt aktualisiert:
22. Juni 2003, 17:43

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