Schauplätze

Dienstag, 15. Oktober 2002

»Bitte bewahren sie Ruhe!«

16:30 Uhr. Es war ja nur eine Frage der Zeit. Als Pendler, der Tag für Tag mit der Bahn nach Frankfurt fährt, auf einer Strecke, auf der pro Monat ein oder zwei Menschen die Zuflucht im Tod suchen, musste es mir ja mal passieren. Heute wurde der Statistik genüge getan.

Fünf Minuten stehen wir auf der Strecke an ungewohnter Stelle nach einer gar nicht so heftigen Bremsung. Langsam bricht Unmut aus über die Trägheit der Bahn. Weitere fünf Minuten später dann die Durchsage. In einem leicht schluchzenden, aber gefassten Ton quillt es schwermütig aus den Lautsprechern: »Wegen eines Unfalls wird sich die Weiterfahrt unseres Zuges auf unbestimmte Zeit verzögern.« Ein Raunen geht durch den Zug. Sekunden später durchquert eine aufgelöste Zugbegleiterin den doppelstöckigen Waggon. Eine Rot-Kreuz-Mitarbeiterin bietet ihre Hilfe an. Aber: »Da ist nichts mehr zu machen.«

Wie es dem Zugführer jetzt wohl geht?

Ein Passagier nach dem anderen zückt sein Handy. Anrufe bei den Lieben daheim, erstaunlicherweise in einem sehr nüchternen Tonfall. »Nur keine Panik.« Von dem Drama, das sich draußen abgespielt hat, bekommen wir nichts mit. »Bitte bewahren Sie Ruhe.«, wiederholt sich die Durchsage. Wo die Zugchefin womöglich die aufgeregteste unter uns ist.

Ein Feuerwehrmann und ein Rettungshelfer gehen am Zug entlang — gegen die Fahrtrichtung. Ich bin auf halber Höhe des Zuges und kann nicht erkennen, wie weit die beiden gehen. Ein seltsamer Schauder überkommt mich, als ich mir vorstelle, wie viel noch vom dem Lebensmüden übrig ist.

16:56 Uhr. Auf den Gleisen ist schon etwas mehr los: zwei Johanniter mit gesenktem Kopf. Warum bloß immer auf dieser Strecke? Und warum immer morgens oder abends? Den Rest des Tages fahren doch auch Züge. Und warum überhaupt?

Bad Nauheim ist quasi einen Steinwurf von meinem jetzigen Aufenthaltsort entfernt. Und doch unerreichbar. Ich sitze hier wie festgenagelt und beobachte die Leute. Schwer zu sagen, was in deren Köpfen vorgeht. Andere Blicke treffen mich, wohl auf der Suche nach Antworten auf meine Fragen. Wie lange wir hier wohl noch sitzen müssen? Ein Bahnbediensteter und zwei Feuerwehrmänner gehen vorbei — diesmal in Fahrtrichtung. Und jetzt der Notarzt mit der Polizei in entgegengesetzter Richtung. Der Notarzt hat bestimmt gerade den Tod festgestellt. Mit dem Leben unvereinbare Verletzung nennt man das im Medizindeutsch. Und noch zwei Johanniter. Eine Stunde? Zwei Stunden?

Der Mann links neben mir vertreibt sich die Zeit mit einem Buch. Ich hatte mir so viel vorgenommen für den Abend, extra früher Feierabend gemacht. Und jetzt das

Leute kramen gelangweilt in ihren Taschen. Telefonieren. Sprechen miteinander. Vielleicht hätte letzteres dem Toten auch geholfen.

Über dem Taunus blitzt es jetzt. Die Wolken ziehen sich über uns zusammen. Der Notfallmanager, der gerade mit dem Einsatzleiter der Feuerwehr spricht, interessiert sich für etwas ganz anderes, glaube ich. Mit den dichter werdenden Wolken wird es draußen dunkler. Passt irgendwie zur Situation.

Schon oft habe ich mich über Menschen geärgert, die ohne Rücksicht auf andere ihren eigenen Verlust provozieren. Nach mir die Sintflut, ist wohl der passende Vergleich. Ärgerlich. Nervtötend. Und beschämend zugleich. So was machen nur Menschen.

17:17 Uhr. Einige Passagiere gähnen. Bei anderen werden die Gesichter länger. Und das Herbstlaub fällt vereinzelt auf die Gleise herab. Jetzt fängt es auch noch an zu regnen. Zum Glück ist es angenehm warm hier drin. Mich überfällt der Gedanke dem Toten dankbar sein zu müssen. Für die Zeit der Besinnung, die er mir geschenkt hat. Für die Muße, das hier niederschreiben zu können. »So ein Scheiß!«, murmelt die junge Frau hinter mir. An ihr ist der Kelch mit dem Zeitgeschenk wohl noch nicht angekommen. Ein älterer Herr schräg gegenüber von mir schüttelt den Kopf. »Warum ich? Warum heute?«, geht bestimmt vielen durch den Kopf.

Blitz. Donner. Regen. Die Schönheit und ergreifende Stärke der Natur wird heute einer weniger erleben.

17:31 Uhr. Wieder der Notfallmanager, diesmal mit Handy am Ohr. — Wenn ich mich um etwas sorge, genügt mir ein einstündiger Lauf auf meiner Hausstrecke oder eine ausgedehnte Radtour. In ganz schlimmen Fällen greife ich zu drei oder vier Flaschen Bier. Aber was geht in einem Menschen vor, der seinen Schmerz nur noch mit dem Tod stillen kann?

Der Himmel lichtet sich, es hat aufgehört zu regnen. Ob das ein Zeichen dafür ist, dass es bald weitergeht?

17:38 Uhr. Auf dem Nachbargleis rollt der Regionalexpress nach Treysa an uns vorbei. Ist das das Zeichen für den baldigen Aufbruch?

17:42 Uhr. »Die Weiterfahrt unseres Zuges wird sich weiter verzögern. Ich bitte sie um etwas Geduld.«, immer noch mit zittriger Stimme. Verständnis ja, aber nicht für den Selbstmörder. Geduld? Es ist schon erstaunlich, wie dehnbar ein Geduldsfaden sein kann. Wenn jetzt bloß das Zeitungsgeraschel um mich herum nicht wäre.

Wie ich hier so herumkritzele auf meinem Blatt Papier, fühle ich mich ein kleines bisschen wie ein Frontberichterstatter. Sensationsjournalismus ist es jedenfalls nicht. Nein, selbst in der Regionalpresse ist solch ein Vorfall kaum mehr als einen kleinen Textkasten wert. Kein Trost für diejenigen, die in Friedberg zugestiegen sind. Und auch kein Trost für diejenigen, die eigentlich um kurz nach halb fünf in Bad Nauheim aussteigen wollten, so wie ich.

Mobiltelefone nerven mit piepsigen Melodien. Ich versuche mich zu beruhigen, während wieder ein Zug unseren passiert. Schon der dritte jetzt…

Für eine Kniegelenkspiegelung hat man mich vor Jahren mit einer Unmenge von Dormicum abgeschossen. Ob Sterben auch so unspektakulär ist?

18:04 Uhr. Jetzt muss es aber wirklich bald weitergehen, ich schreibe schon die dritte Seite voll. Wieder rollt ein Zug vorbei.

Nach mir die Sintflut. Warum müssen sich Menschen töten lassen? Warum können sie sich nicht im Stillen umbringen? Dort, wo das Aufräumen leichter ist. Um sich erfolgreich zu vergiften, sind die meisten zu blöd. Sogar beim Aufschneiden der Pulsadern scheitern viele. Nicht mal den eigenen Tod schaffen sie. Und hinterher landen sie dann im psychiatrischen Krankenhaus, neben Alkoholikern, Pillenschluckern, Manisch-Depressiven und Paranoikern. Bilder aus »Leaving Las Vegas« bauen sich vor meinem geistigen Auge auf. Kann (freiwilliges) Sterben stilvoll sein? Vor einigen Jahren hat ein altes Liebespaar in der »Lindenstraße« Selbstmord begangen — auf Rosen gebettet, gemeinsam, Hand in Hand. Vor den Zug springen ist jedenfalls nicht stilvoll. Sich aufhängen ist nicht schlecht, solange der Haken in der Decke hält. Oder einen Diabetiker um ein paar Ampullen Insulin erleichtern. Vor ein paar Monaten hat sich in Friedberg jemand selbst zusammengeschweißte Metallplatten an Brust und Rücken montiert, um mit Starkstrom ein Ende zu finden. Es muss fürchterlich gestunken haben, als der Hausmeister frühmorgens den Toten entdeckte und nur Glück dafür gesorgt hat, dass er beim Anfassen der immer noch unter Strom stehenden Leiche sich nicht gleich dazulegen musste. Entschuldigung, ich steigere mich gerade in Fatalismus hinein. Aber wir rühren uns jetzt schon zwei Stunden nicht mehr vom Fleck.

Gerade geht offenbar die Kripo vorbei. Endlich, wenn die ihre Arbeit erledigt haben, sind die Leute mit dem Zinksarg bereits im Einsatz.

18:30 Uhr. Wieder ein Regionalexpress nach Treysa.

18:40 Uhr. Noch ein Zug. Wenn ich doch nur müde wäre. Zum Schreiben habe ich keine rechte Lust mehr. Ich schließe mal die Augen.

18:47 Uhr. Wir fahren wieder. Erleichterung. Endlich!

Sorry für den langen, düsteren Bericht. Aber das Leben ist nicht immer nur lustig. Und ich finde es wichtig und richtig, dann man sich hin und wieder auch mit den Schattenseiten auseinandersetzt. Danke für's Lesen.


 
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Resident of Antville  seit 8087 Tagen
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22. Juni 2003, 17:43

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